Gastartikel: Der Kardinalfehler der Videospiele (2)
Ohne große Vorworte folgt nun der zweite und finale Teil (Teil 1 versteckt sich hier) der kleinen Gastartikelreihe des prächtigen Dirk M. Jürgens. Nachdem der geneigte Leser nun zweimal einen Einblick in die aufrührerische Gedankenwelt des bekennenden Katzenfreundes bekommen hat, muss er sich ab nächster Woche dann wieder mit meinen Ergüssen zufrieden geben. Freuen darf man sich auf meine Meinung zur PS Vita (aktuell wie eh und je), auf den Niedergang der Videospiele, auf „Ocarina of Time“ und auf die Abenteuer einer verdammt soliden Schlange. Mein feiner kleiner Blog hier wurde zudem vor geraumer Zeit von Milan von taperapers.de mit dem Liebsten-Award bedacht. Das muss natürlich auch noch angemessen gewürdigt werden. Bis dahin übergebe ich das Szepter jedoch wieder an Dirk.
Na, lieber Leser? Hast du den ersten Teil dieses (wie erwähnt spektakulären) Artikels zeitnah gelesen und musstest auf diesen Rest warten? Nun… dann hast du gerade am eigenen Leib gesehen, wie unschön es ist, nicht über das Tempo bestimmen zu können.
Also zurück zum Thema!
Ein anderer Fall, der immer wieder Problem in Sachen Bestimmbarkeit des Spieltempos gibt, sind Bosskämpfe, wie in dem ebenfalls jedem Entwickler zu empfehlenden Artikel „You are Not the Boss of me“ ausgeführt wird.
Der Boss ist an sich unverwundbar und unschlagbar, hat aber einen verwundbaren Punkt, den er irgendwann in seinem festen Angriffsschema offenlegt. Egal, wie gut ich bin, muss ich doch abwarten, bis er seine Routine durchgezogen hat und mir irgendwann eine Chance einräumt, ihn zu treffen. Wenn ich ihn also besiege, dann nur, weil er es mir gestattet. Wäre er kein Sportsmann, hätte er sich ewig bedeckt gehalten und ich wäre davor verhungert. Statt also der Machtfantasie, die viele Spiele in der Regel bieten sollen, bekomme ich nur aufgezeigt, dass die Pixelfigur vor mir das Sagen hat. Ja, er lässt mich gewinnen, aber nur, wenn ich mich seinem Tempo anpasse, wenn ich mich ihm unterordne.
Alternativ können Endgegner meinen Unwillen dadurch erregen, einfach nur viel zuviel einstecken oder sich gar selbst heilen zu können und den Kampf so endlos in die Länge zu ziehen.
Wenn ein Kampf auf Leben und Tod aufgrund seiner bloßen Dauer schon langweilig wird, macht man was falsch.
Praktisch jeder Boss des an sich coolen „Outland“ gehört dieser Familie an.
Die Bandbreite dessen, was das Spieltempo hemmt, ist vielfältig. Ausdauer-Balken etwa, die bestimmen, wie lange sich die Spielfigur schnell bewegen kann, sind nicht nur der Grund, warum ich „Skyward Sword“ noch immer nicht gespielt habe, sondern auch ein weiterer Fall von unangebrachtem Realismus (auch „Hauskatzenrealismus“ genannt… wenn auch lediglich von mir). Ebenso ewig lange Wege, im schlimmsten Fall durch schon bekanntes Gebiet, oder Questgeber, die einen erst zu verschiedenen Zwischenzielen schicken, ehe sie mit ihrer Mission herausrücken.
Die modernen Millitärshooter haben einen ganz eigenen Sündenkatalog entwickelt. Türen, an denen man brav auf sein Team zu warten hat, reißen aus dem Tempo. Endlos spawnende Gegner zwingen den Spieler zum Vorstoß, anstatt ihn aus der Distanz feuern zu lassen. Kurze Schleichsequenzen sollen an sich nur Abwechslung bringen, doch reißen sie den Spieler aus dem Fluss, den er im Rest des Spieles entwickelt hat. Bleibt er mal ein paar Schritte zurück, drängen ihn seine Teamkameraden vorwärts. Immer wieder wird die Rolle des mächtigen Kriegerhelden von der des untergeordneten Soldaten und Befehlsempfängers überdeckt.
All diesen Fällen ist gemein, dass Spielfiguren über mich bestimmen und nicht andersherum, wie ich es haben will. Im Spiel will ich die Position des aktiven Machers haben, darum darf es mich nicht zum passiven Zuschauer verdammen.
„EINSPRUCH!“ ruft man mir ein gutes Stück über der Zimmerlautstärke zu. „Aus Ihnen spricht doch nur der geduldarme, kindsköpfige Ballerspieler, der was zu kompensieren hat! Bei Adventures, Digital Novels und Rhytmus-Spielen ist es unvermeidbar, dass das Spiel das Tempo vorgibt!“
„Stimmt schon…“ murmle ich, während ich hoffe, dass der geneigte Leser nicht merkt, dass ihm die Rolle eines senilen Richters zugeschoben wurde.
Es gibt durchaus Spiele, in denen es elementarer Teil des Gameplays ist, nicht zu bestimmen, sondern sich richtig einzuordnen.
Ein Schachspiel muss in Runden ablaufen, bei Tanzspielen ist das Anpassen an den vorgegebenen Rhythmus sogar das alleinige Spielziel. So ist die Toleranz bei verschiedenen Genres durchaus unterschiedlich. Ein Adventure wird zurückgelehnt und entspannt gespielt, die ständige Interaktion mit der Story gehört dazu und auch längere Dialogpassagen fügen sich darin ein.
In einem RPG akzeptiert der Spieler, dass er jede Menge Zeit damit verbringen wird, gewissermaßen auf der Stelle zu treten und zu grinden, um irgendwann stark genug zu sein, weiter zu kommen.
Auch in Stealth Games ist das Abwarten und Anpassen an den Feind zentral: Nur, wenn ich lange genug im Dunkeln hocke, dreht mir die Wache irgendwann den Rücken zu, so dass ich sie ebenso lautlos wie unangebracht brutal zu Petrus schicke (der dann sagt „Sag mal, ELITE_GUARD_142… weiß du, ob du ein Sünder warst? Ich verwechsle dich immer mit deinen ganzen Doppelgängern.“). Selbst Super Mario muss warten, bis sich die Thwomps in die Luft erhoben haben, ehe er unter ihnen durchlaufen kann.
Für die Kulturbanausen: Unter diesen hier.
Doch auch in solchen Spielen, in denen man an sich liberaler ist, was die Selbstbestimmung angeht, gibt es Grenzen: Grinden, um einen besonders starken Gegner, der einen Durchgang bewacht besiegen zu können, wird akzeptiert, ein Schild „Eintritt erst ab Level 40“ kommt in der Regel schlechter an. – Und ich wage zu behaupten, auch jener Herr, der mich eben so unfein unterbrach, war schon frustriert, wenn er das entscheidende Beweisstück für seinen Fall hatte, es aber einfach nicht vorbringen durfte, weil das Gespräch, das er nicht steuern konnte, nicht darauf kam, oder? ODER?
Es ist also immer die Frage, um welche Art von Spiel es geht. Gerade darum sind die drei, im ersten Teil genannten Kritikpunkt-Klassiker auch so allgemein anerkannt hassenswert: Sie stören genreunabhängig.
Sie sollten folglich immer vermieden werden, doch auch dann noch sollte ein Entwickler darauf achten, woran genau er beim Spieler appelliert:
In einem adrenalinlastigen Shooter kann es den gleichen Spieler in den Wahnsinn treiben, läppischen zwei Minuten Dialog zu lauschen, der in einer Digital Novel eine halbe Stunde am Stück liest, ohne sich gelangweilt zu fühlen.
Darin liegt auch ein Schlüssel für den allgemeinen Hass auf Escort-Missions. Sie treten in der Regel in Actionspielen auf, also Spielen, in denen man sich zumeist recht frei und nach eigenem Ermessen bewegen kann. Dann nehmen sie einem diese Freiheit und zwingen einen, sich an das Tempo eines Computerkameraden anzupassen.
Der ewig diskutierte Punkt spielerischer Freiheit hängt vermutlich auch mehr mit dem Tempo, als mit Inhalten zusammen. Sandboxspiele wie die GTA-Reihe bieten storytechnisch nicht allzu viele Möglichkeiten. Man kann beeinflussen, wie reich und kriminell man genau ist, aber etwa zum Kronzeugen gegen seine Gangsterkumpel werden kann Tommy Vercetti ebenso wenig, wie Mario sich einfach eine neue Freundin suchen, die weniger dem Beuteschema von Schildkrötenmonstern entspricht.
Oder auch nur Schwimmunterricht nehmen.
Doch darauf kommt es nicht an. Die Freiheit, die man will, ist die gefühlte Freiheit, wenn man sich aussuchen kann, wann man sich mit welcher Gang anlegt, wann man welchen Auftrag erledigt und zwischendrin einfach tun und lassen kann, was man will.
Die, in viel zu langen Filmsequenzen erzählten Stories der „Metal Gear Solid“-Reihe stehen auch ziemlich genau fest, aber die Entscheidung, ob man sich an den Gegnern vorbei schleicht, oder sie mit Feuer aus allen Rohren, und der Ankündigung, morgen auch ihre Familien (und insbesondere Katzen) zu töten niedermäht, gibt das entscheidende GEFÜHL von Freiheit. – Und da Videospiele an sich schon Simulationen sind, reicht in ihnen die Simulation von Freiheit meist schon aus.
Kurz zusammengefasst: Viele Spiele leben davon, mehr oder weniger Machtfantasien zu sein. Macht ist deshalb begehrenswert, weil sie Freiheit bietet (Spider-Mans Onkel wollte mir zwar was anderes erzählen, aber deshalb hab ich ihn auch abgeknallt). Und Freiheit ist in Videospielen weniger Moral, als vielmehr die Wahl eines eigenen Tempos.
4 Kommentare
Andreas
Im Übrigen stimme ich Dirk im Großen und Ganzen zu, hadere jedoch mit dem einen oder anderen Punkt … nicht zuletzt, da ich immer noch von „Dark Souls II“ so begeistert bin. „Dark Souls II“ ist ein Spiel mit großen, schwer bezwingbaren Bossen, bei denen man geduldig den richtigen Moment zum Schlag abwarten muss, häufigen Wiederholungen, Backtracking und einem Ausdauerbalken mit dem man taktisch wirtschaften muss und der nur dazu da ist, den Spieler in seinen Aktionsmöglichkeiten einzuschränken. Und trotz all dem (teilweise sogar wegen all dem) ist das Spiel fantastisch. Und jetzt? 😀
Pingback:
DMJ
„Dark Souls“ arbeitet bekanntlich mit dem speziellen Trick, Spieler mittels subliminaler Botschaften zu willenlosen Sklaven zu machen, die das Leid, welches ihr grausamer Herr ihnen zufügt, für Vergnügen halten.
Ja… DS-Fans neigen auch zum Katzenhaltertum.
Andreas
Das ist ein Argument (auch wenn keine Katze, sondern ein Hund bei uns in der Wohnung herumlümmelt).