Tote … Tote überall!
Ich komme ohne Umschweife zum Punkt: Die erste „The Walking Dead“-Staffel hat mich echt beeindruckt. Es ist vielleicht die erste Zombiegeschichte, die mich – und da bin ich Mann’s genug das zuzugeben – gelegentlich sogar zu Tränen gerührt hat. Aber kein Wunder … die Erlebnisse des Sträfling Lee Everett und der kleinen Clem lässt wahrscheinlich niemanden völlig kalt.
Moment … Lee Everett? Die kleine Clem? Meine ich nicht Rick Grimes und den kleinen Daryl Dixon? Nein. Denn ich rede nicht von der Fernsehserie (deren erste Staffel war ganz okay), ich rede von dem Episodenspiel „The Walking Dead“ von Telltale Games. Ein Spiel, dass mich emotional so sehr berührt hat wie noch keines zuvor. „Schön und gut“, mag jetzt der eine oder andere denken, „Computerspiele setzen die Messlatte da nicht allzuhoch … das Schicksal der Angry Birds lässt mich jetzt auch nicht gerade in Tränen ausbrechen“, deswegen möchte ich noch ein wenig weiter gehen: es ist schon lange her, dass mich überhaupt ein Medium (sei es Film, Musik, Literatur oder sonstiges) so extrem durchgerüttelt hat wie dieses Spiel.
„The Walking Dead – Season 1“ ist (im weitesten Sinne) ein Adventure. Es heißt natülich nicht rein zufällig wie die bekannte Fernsehserien mit den Zombies. Beide Formate basieren auf der gleichnamigen Comicreihe. Jedoch: das Spiel erzählt eine vollkommen andere Geschichte wie Serie und Comic, eine Handlung die parallel zu deren Ereignissen stattfindet und nur ein paar wenige überschneidende Charaktere gemein hat. Rick Grimes und seine Gruppe Überlebender kommen (fast) nicht vor, stattdessen erleben wir die Geschichte des Häftlings Lee Everett, der das fragliche Glück hat, dass die Zombieapokalypse seinem Gefängnisaufenthalt verhindert. Schon bald begegnet er dem Mädchen Clementine und nimmt sich ihrer an. Fortan ziehen die Beiden gemeinsam durch die Welt und Lee (und somit der Spieler) wird nach und nach zu Clems Ersatzvater. Ach ja … und dann sind da natürlich noch die Zombies.
„In the end, the dead always win.“
Rein spielerisch und technisch ist „The Walking Dead – Season 1“ kein großer Wurf. Die Steuerung ist (zumindest auf Konsole) schwammig und auf das nötigste reduziert, die Rätsel sind größteneils lachhaft und die Actionelemente können im schlimmsten Fall ein klein wenig nerven. Oberflächlich also ein maximal durchschnittliches Spiel. Wären da nicht die Handlung und die Charaktere … denen ist es zu verdanken, dass das Spiel trotz der genannten Schwächen vielerorts zum Spiel des Jahres 2012 gewählt wurde.
Das Besondere an „The Walking Dead – Season 1“: Entscheidungen, die man im Lauf des Spieles trifft, beeinflußen die Handlung und das Verhältnis zu anderen Charakteren … nicht zuletzt zu Clem. Man könnte es wahrscheinlich auch einen interaktiven Film nennen. Dieser Kniff ist nicht neu. Das prominenteste Beispiel aus der jüngeren Vergangenheit dürfte „Heavy Rain“ für die Playstation 3 sein. Dieses litt allerdings unter einer eher durchschnittlichen, etwas wirren und mit Logiklöchern zugepflasterten Handlung. Ich war seinerzeit davon fasziniert, jedoch nicht übermäßig stark emotional involviert.
Bei „The Walking Dead“ sind die getroffenen Entscheidungen zugegebenermaßen nur selten von großem Gewicht, die wichtigsten Plotpunkte erlebt jeder Spieler auf die gleiche Art und Weise. Es sind Feinheiten, die sich von Spieler zu Spieler unterscheiden. Genug jedoch, um das Spielerlebnis zu personalisieren.
„The right thing is just scary sometimes.“
Dabei verzichtet das Spiel größtenteils auf plakative Schwarz-Weiß-Malerei. Es gibt selten eindeutig richtige oder eindeutig falsche Entscheidungen. Was man macht hat Konsequenzen … immer. Und diese sind selten nur gut oder nur schlecht. Oft ertappt man sich selbst dabei wie man getroffene Entscheidungen moralisch hinterfragt und sich wundert, was diese über einen selbst aussagen.
Ein Film kann diese hohe Stufe der Immersion nur schwer erreichen. Bei einem Film ist man im Normalfall nur Beobachter, wenn auch kein emotionsloser. Man hasst vielleicht die Bösewichte, leidet und freut sich mit den Helden … bei all dem ist man allerdings stets passiv und kann die Geschehnisse nicht beeinflußen. Deutlich wird das auch im direkten Vergleich zwischen der TV-Serie „The Walking Dead“ und dem Spiel. Zweifelsohne … eine gelungene Serie. Meine emotionale Bindung zu den Figuren (Stand: Staffel 2) ist allerdings – im direkten Vergleich zum Spiel – eher schwach. Stirbt einer bin ich bestenfalls überrascht, aber emotional berührt hat es mich noch nie (die Tatsache, dass recht viele Figuren in der Serie nicht wirklich sympathisch sind, trägt wohl noch dazu bei).
Das Spiel wiederum hat mich stellenweise extrem schockiert und ein- bis zweimal beinahe zu Tränen gerührt. Das sind nicht nur Figuren, die ich beim Überlebenskampf beobachtet habe … das sind Figuren mit denen ich gemeinsam ums Überleben gekämpft und deren Schicksale ich durch meine Entscheidungen beeinflusst habe. Und wer beim Finale nicht zumindest einen kleinen Kloß im Hals hat … der hat ein Herz aus Stein.
„You don’t just end it cause it’s hard. You stick it out, and you help the folks you care about.“
Die erzählerische Qualität von „The Walking Dead“ ist natürlich nicht Computerspiel-Standard. Eine Vielzahl der aktuellen Games haben Geschichten, die auf die Rückseite eines Bierdeckels passen. Viel zu oft genießt die Story in der Spieleentwicklung keine übermäßig hohe Priorität und muss sich auch gerne dem Gamedesign unterwerfen. Und das ist nicht immer von Vorteil – wie man sich vielleicht denken kann.
Das „Making of Uncharted 3“ gibt einem dafür ein schönes Beispiel. In diesem wird erzählt, dass man eine Verfolgungsjagd ins Spiel integriert hatte, die gewohnt spektakulär inszeniert war, jedoch einen massiven Schönheitsfehler hatte: keiner der Programmierer wußte, wen Nathan Drake da jetzt eigentlich verfolgen könnte. Und wieso überhaupt? Bis zu dem Zeitpunkt jagte er grundlos hinter einem Dummy her.
Also wand man sich an die Autorin Amy Henning und bat sie die Verfolgungsjagd doch irgendwie schlüssig in die Narrative zu integrieren … es ist ein bißchen so als würde ein Filmteam Szenen drehen und erst danach überlegen wie diese in den Film passen. Suboptimal. Konsequenterweise hat „Uncharted 3“ auch eine eher uninspirierte Story (jedoch ganz hervorragend ausgearbeitete Charaktere … das muss man dem Spiel lassen).
„I’ll miss you.“
„The Walking Dead“ ist natürlich auch nicht das erste Computerspiel mit einer hervorragenden Geschichte (man denke nur an Spiele wie „Planescape: Torment“), auch moralische Entscheidungen sind nicht neu. Das Zusammenspiel aus hervorragenden Skripten, exzellenten Sprechern und konsequenter Erzählung führen hier jedoch zu einer selten erlebten Brillianz. So mag die „Mass Effect“-Reihe epischer und aufsehenerregender sein, mitreißender ist allerdings die fokusiertere und persönlichere Geschichte der laufenden Toten. Wenn die Spieleindustrie an einen Punkt kommt, an dem der visuelle Bombast (und das Budget) eines „Mass Effect“ oder „Call of Duty“ mit dem erzählerischen Mut und der Intensivität eines „Walking Dead“ zusammen kommt … woooah. It’ll blow minds.
„The Walking Dead – Season 1“ ist mittlerweile nicht nur als Download, sondern auch als Ladenversion kaufbar … zum ersten Mal mit (offiziellen) deutschen Untertiteln (für all diejenigen, die bisher wegen der Sprachbarriere zurückgeschreckt sind). Der erste DLC „400 Days“ ist vor kurzem erschienen und Season 2 steht vor der Tür. Spätestens jetzt sollte jeder, der sich auch nur halbwegs für Zombies, Geschichten, Adventures, die Serie oder Comics interessiert, zugreifen. Ein Spiel, das man so schnell nicht vergessen wird.